„Ethnographische Karte der europäischen Türkei...” von Carl SAX (Wien 1878)
Ingrid Kretschmer
Institut für Geographie und Regionalforschung Kartographie und Geoinformation
ingrid.kretschmer@univie.ac.at
Die k.k. Geographische Gesellschaft in Wien und die Balkanforschung
Im Herbst des Jahres 1856 konstituierte sich in Wien die k.k. Geographische Gesellschaft, die daher im Jahr 2006 als Österreichische Geographische Gesellschaft ihre 150 Jahr-Feier begeht. Sie ist die achtälteste Geographische Gesellschaft der Welt. Diese Gesellschaft war zum Zeitpunkt ihrer Gründung die einzige im damaligen Österreichischen Kaiserstaat, nach dem Ausgleich 1867 entstand aber schon 1872 die Ungarische Geographische Gesellschaft in Budapest.
Schon bei ihrer Gründung am 4. November 1856 vereinte die k.k. Geographische Gesellschaft in Wien unter ihren 222 Gründungsmitgliedern neben vielen Freunden der Geographie und Kartographie bedeutende Persönlichkeiten und Naturwissenschaftler des Gesamtstaates, insbesondere auch Mitglieder der 1847 gegründeten kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und der 1849 gegründeten k.k. Geologischen Reichsanstalt.
Die Zahl der Mitglieder stieg rasch an und erreichte Mitte der 1860er Jahre einen ersten Höhepunkt. Ab 1857 verfolgte die Geographische Gesellschaft in Wien ferner das Ziel, durch die Ernennung von Ehrenmitgliedern sowohl Förderung als auch internationale Bekanntheit zu gewinnen. Förderung und Zuwendungen erhoffte man sich von Mitgliedern des Kaiserhauses, die ab Ende der 1860er Jahre auch eintrafen.
Die wissenschaftliche Bedeutung der Gesellschaft stieg mit der Annahme der Ehrenmitgliedschaft durch die anerkanntesten Gelehrten der Zeit, wie beispielsweise Alexander von HUMBOLDT (1769–1859, Berlin), Edme- Francois JOMARD (1777–1862, Paris), Ferdinand-Marie de LESSEPS (1805–1894, Paris), Karl RITTER (1779–1859, Berlin) oder Friedrich Georg Wilhelm STRUVE (1793–1864, Pulkowa/Russland).Unter den frühen Ehrenmitgliedern der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien befand sich seit 1857 auch der in Wien lebende Naturforscher Ami BOUÉ (1794–1881), der auch Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften war.
Obwohl laut Statuten die k.k. Geographische Gesellschaft in Wien keine Fachgesellschaft im engeren Sinn darstellte, sondern allgemein die Verbreitung geographischer Kenntnisse verfolgte, bildeten die führenden Gelehrten als deren Mitglieder bald einen inneren Kern und wandten ihre Aufmerksamkeit speziellen Forschungsfragen zu. Zu diesen zählten in den ersten 50 Jahren des Bestehens der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien folgende Schwerpunkte:
In Übersee: 1) das Nordpolargebiet und 2) Afrika, in Europa: 1) die Alpen und 2) Südosteuropa.
Über alle Unternehmungen wurde in der seit 1857 erscheinenden Zeitschrift„Mittheilungen der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien” (seit 1959 „Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft”) nicht nur laufend berichtet, sondern darin sind auch die Forschungsergebnisse vorgestellt.
Wenden wir uns nun den seit den 1860er Jahren erzielten Fortschritten in der geographischen Erforschung Südosteuropaszu, andenen Mitgliederderk.k. Geographischen Gesellschaft in Wien Anteil haben. Tatsache ist, dass bis Mitte des 19. Jahrhunderts die nördliche Balkanhalbinsel und insbesondere die Donau-Ufergebiete – damals politisch zum Osmanischen Reich gehörend – geographisch weit gehend unerforscht waren. Es fehlten – mit Ausnahme der Walachei, für die es eine „Topographische Karte” (4 Blätter, 1 : 576 000, Wien 1812) gab, nicht nur genauere topographische Kartenwerke, sondern vor allem auch geologische Aufnahmen (geologische Karten) und ethnographische Informationen (ethnographische Karten). Das Osmanische Reich, der damalige Nachbarstaat Österreichs (ab 1867 Österreich–Ungarns) war an einer Landesaufnahme nicht interessiert.
Dieser Staat hatte insbesondere seit dem kriegerischen Konflikt mit Russland (Katharina II.) im Jahr 1768 einen ständigen Machtverfall erlebt. Andererseits hatte die aufkommende „Balkanfrage” das allgemeine Interesse an topographischen und thematischen Karten dieser Region belebt und seit 1810 waren in Wien mehrere kleinmaßstäbige Übersichtskartenwerke von Teilen des Osmanischen Reiches erschienen. Ähnliche Kartenwerke der europäischen Türkei gab seit 1830 auch der Russische topographische Dienst heraus. Der große Russisch- türkische Krieg 1853–1856 (Pariser Friede) rückte schließlich diesen Raum in das Zentrum allgemeinen und wissenschaftlichen Interesses. In der Folge verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Einfluss der österreichischen staatlichen Kartographie auf der Balkanhalbinsel und Forschungsreisende wandten sich verstärkt diesem Raum zu.
Ab den 1860er Jahren war daher die geographische Erforschung Südosteuropas auch für Mitglieder der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien ein aktuelles Anliegen, da auch die damals bestehenden Handelsbeziehungen eine nähere Erforschung dieses Raumes topographisch, geologisch und ethnographisch nahe legten.
Bis 1856 gab es im Wesentlichen einen bedeutenden Versuch, die Länder der Balkanhalbinsel wissenschaftlich zu erschließen. Dieser stammte von Ami BOUÉ, dem Ehrenmitglied der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien. BOUÉ hatte in Genf, Edinburg, Berlin und Wien studiert und Reisen durch ganz Europa unternommen. Er arbeitete als Geologe und Paläontologe und erstellte nicht nur eine geologische Karte von Siebenbürgen (um 1825) und eine erste kleine geologische Karte von Europa (1827), sondern seinen Arbeiten aus 1836/38 verdankt die Wissenschaft die ersten Einsichten in den geologischen Bau der Balkanhalbinsel, an die erst in den 1870er Jahren andere österreichische Forscher anknüpften. Sein 2-bändiges Werk über die europäische Türkei erschien 1889. Von den Leistungen BOUÉs und einiger französischer Reisender abgesehen, waren die wissenschaftlichen Kenntnisse über den Raum zwischen Balkan und Donau bis 1860 zunächst aber dürftig.
In richtiger Erkenntnis der Bedeutung des Raumes wählte in der Folge Felix KANITZ (1829–1904), ordentliches Mitglied der k.k. Geographischen Gesellschaft seit 1868, die nördliche Balkanhalbinsel zu seinem Reise- und Forschungsgebiet und widmete 16 Jahre (1859–1875) der geographischen Erforschung des europäischen Südostens (Serbiens, Donau-Bulgariens, teilweise auch Montenegros und der Herzegowina). Als Sohn wohlhabender Eltern hatte KANITZ eine gediegene Ausbildung in Zeichnen, Malen, Radieren und Lithographieren auf der Kunstakademie in Kassel erhalten und war in Wien ab 1847 zu verschiedenen Gelehrten in engere Beziehung getreten. Er erwarb sich auf zahlreichen Reisen eine gründliche Kenntnis Serbiens und nahm dessen byzantinische Monumente als erster sorgfältig zeichnerisch auf. Anschließend wandte er sich Bulgarien zu. Durch seine Reisen und Arbeiten zwischen Balkan und Donau erfuhr die Kenntnis der Topographie des Raumes und ihre kartographische Darstellung ihre bedeutendsten Korrekturen. Dank der Beherrschung der bulgarischen und der serbischen Sprache konnte er auch die Siedlungsgebiete dieser Völker beschreiben. Seine Publikationen bezogen sich auch auf die ethnographischen und staatlichen Verhältnisse. Die „Mittheilungen der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien” weisen zwischen 1863 und 1877 sieben Abhandlungen von Felix KANITZ aus, unter denen beispielsweise auch die Behandlung der Ortsnamen West- und Ostbulgariens auffällt.
Darüber hinaus konnte KANITZ durch seine genauen Ortskenntnisse, seinen kritischen Scharfsinn und seine künstlerische Qualifikation umfangreiche selbständige Werke über Serbien und Donau-Bulgarien schaffen, die für die Balkanforschung bis in jüngste Zeit wertvolle Quellen darstellen.Fortschritte der geographischen und geologischen Erforschung der Dobrudscha erbrachte ferner die Reise von Karl PETERS, Universitätsprofessor in Graz und Mitglied der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien seit 1857, dessen geologische Karte„Dobrudscha” (1 : 420 000) 1867 in Wien erschien.
Eine besondere Periode der wissenschaftlichen Erforschung der südöstlichen Nachbarländer innerhalb der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien begann zweifellos im Jahr 1869, dem Jahr des beginnenden Bahnbaues im Osmanischen Reich. Die Tatsache der Ernennung von W. PRESSEL, Mitglied der k.k. Geographischen Gesellschaft seit 1870, zum Direktor der osmanischen Bahnen und Eisenbahn-Bauten, erbrachte Voruntersuchungen im Gelände ab 1869, an denen sich auch der damalige Präsident der k.k. Geographischen Gesellschaft, der Geologe Ferdinand von HOCHSTETTER (1829–1884) durch eine dreimonatige Reise beteiligte. Das Ergebnis war seine „Geologische Übersichtskarte des östlichen Teiles der europäischen Türkei” (1 : 1 Mio., Wien 1870), die erste geologische Karte dieses Raumes. Auf Anregung der Geologen Ferdinand von HOCHSTETTER und Eduard SUESS genehmigte schließlich die kaiserliche Akademie der Wissenschaften ab 1875 namhafte Subventionen zur geologischen Erfassung der Balkanländer, die vor allem Mitglieder der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien bestritten.
Ebenfalls im Jahr 1869 konstituierte sich innerhalb der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien ein „orientalisches Komitee”, das sich die Aufgabe stellte, möglichst viele Materialien über die südöstlichen Nachbarländer zu sammeln und in den noch nicht ausreichend erforschten Gebieten wissenschaftliche Reisen zu veranlassen und zu unterstützen. Dieses Vorhaben fand rasch Förderung des Ministeriums des Äußeren, das in liberaler Weise die Konsular-Ämter in den Balkanstaaten einlud, diese Bestrebungen der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien zu unterstützen. Dies bewirkte bereits in den folgenden Jahren die Abfassung interessanter Reiseberichte und Studien durch Konsularbeamte.
Ein österreichischer Diplomat als Kartenautor
Unter den Konsularbeamten der Österreichisch–Ungarischen Monarchie, die durch Jahre in Südosteuropa und teilweise auch im Orient tätig waren und sich auch wissenschaftlichen Studien widmeten, sei Carl SAX hervorgehoben. Der zunächst als Dolmetscher am österreichisch–ungarischen Konsulat in Sarajewo tätige Beamte hatte bereits 1863 in den„Mittheilungen der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien” die interessante Studie„Skizzen über die Bewohner Bosniens mit einer geographischen Einleitung” veröffentlicht und dieser bereits zwei Karten beigefügt: eine topographische Übersicht und eine in Farben gedruckte thematische Karte über die Völker Bosniens und der Herzegowina, die auch quantitative Aussagen machte. Seit 1868 Mitglied der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien, ließ er bereits 1869 als k.k. Vize-Konsul in Sarajewo die zwei Studien„Geographisch-ethnographische Skizze von Bulgarien” und „Die Straßen Bosniens und der Herzegowina” folgen, die ebenfalls in den „Mittheilungen...” erschienen, gefolgt von dem Reisebericht „Reise von Serajewo nach dem Dormitor und durch die mittlere Herzegowina” (1870) und „Beiträge zur Synonymik der geographischen Nomenclatur von Bosnien” (1871). Zwei Jahre später veröffentlichte Carl SAX den Bericht „Eine Excursion von Constantinopel nach Brussa und auf den asiatischen Olymp” (1873) sowie erste„Statistische Studien über Constantinopel” (1873). Nach kurzer Tätigkeit als österreichisch– ungarischer Konsul in Kairo (1876) kehrte Carl SAX 1877 als Konsul in die Türkei zurück, wo er bis 1880 in Adrianopel (Edirne) stationiert war. Diese Jahre nützte er für weitere Studien, wie „Die Bevölkerung der Städte in Thracien und speciell Constantinopels” (1877) und für intensive Materialerhebungen für seine neuartige ethnographische Karte, die im Folgenden vorgestellt wird. Im Jahr 1881 kehrte er nach Wien zurück und war zunächst als Regierungsrat, ab 1882 als Sektionsrat in Verwendung. Ab 1894, zum k.u.k. General-Konsul ernannt, war Carl SAX auch als Professor an der k.k. Orient-Akademie in Wien tätig. Er beendete seine Karriere als k.u.k. Ministerialrat und trat schließlich als Sektionschef in den Ruhestand. In Wien wurde Carl SAX aufgrund seiner Erfahrungen und Verdienste 1898 in den Ausschuss der k.k. Geographischen Gesellschaft gewählt, in dem er bis 1918 tätig war. Sein Hauptwerk „Geschichte des Machtverfalls der Türkei bis Ende des 19. Jahrhunderts und die Phasen der „orientalischen Frage” bis auf die Gegenwart” erschien 1908 in Wien. Im Jahr 1913 gab er eine ergänzte zweite Auflage heraus.
Die ethnographische Karte der europäischen Türkei von Carl SAX
Da die Österreichische Monarchie (nach dem Ausgleich mit Ungarn 1867 Österreichisch– Ungarische Monarchie) ein Vielvölkerstaat war, spielten seit dem stärkeren Einsatz der thematischen Kartographie im 18. Jahrhundert Sprachen- und Völkerkarten eine besondere Rolle. Frühe Sprachenkarten entstanden vorrangig über das Territorium des damaligen Königreiches Ungarn. Nach einigen Vorläufern kam in Pest 1846 der „Versuch einer Sprachenkarte der Österreichischen Monarchie” von Joseph Vinzenz HAEUFLER heraus, der nach heutigem Wissen die früheste Sprachen- bzw. Völkerkarte in Flächenfarbendruck ist. Er hatte drei Farbtöne zur Verfügung und verwendete Rot für Deutsche, Grün für Slawen und Gelb für Romanen. Die Kartenfläche der Verbreitung der Magyaren blieb weiß. Einige Regionen (komplexe Mischgebiete) wurden auf insgesamt neun Nebenkärtchen in größerem Maßstab dargestellt. Die nachfolgende beispielhafte „Ethnographische Karte der oesterreichischen Monarchie” von Carl CZOERNIG (4 Blätter, 1 : 864 000, Wien 1855) stellte in der Folge das beste bis dahin erzielte Ergebnis auf dem Gebiet der Sprachen- und Völkerkarten der Österreichischen Monarchie dar. Sie bewältigte erstmals auch das Problem der kartographischen Darstellung ethnischer Mischgebiete erstaunlich genau und objektiv. Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und lange darüber hinaus galt sie als hervorragendste Völkerkarte eines Großraumes. Die Farbwahl zur Kennzeichnung der Verbreitungsflächen hatte sich seit den Versuchen von HAEUFLER eingebürgert.
Diese Karte wurde in der Folge zur Datenquelle und zum Vorbild für mehrere Sprachen- und Völkerkarten, deren Herausgabe sich ab Beginn der 1860er Jahre intensivierte. Beispiele enthielten auch wissenschaftliche Zeitschriften, vor allem „Petermanns Mitteilungen”. Für den Donauraum zu nennen ist die im Rahmen einer „Ethnographie de la Turquie d`Europe” erschienene „Carte ethnographique de la Turquie d’Europe” (Gotha 1861) des französischen Forschungsreisenden Guillaume LEJEAN, der in den Jahren 1857 bis 1870 ausgedehnte Reisen auf der Balkanhalbinsel unternommen hatte. LEJEAN hatte seinen Schwerpunkt auf den unteren Donauabschnitt und speziell das Gebiet des Donau- deltas mit seinen damals komplizierten Bevölkerungsverhältnissen gelegt. Obwohl für ihre Zeit beachtlich, zeigte aber diese thematische Karte als reine Sprachenkarte in großen Teilen (z. B. Bosnien) keine Differenzierung. Ähnlich geht die von August PETERMANN (1822–1878) gestaltete Karte „Die Ausdehnung der Slaven in der Türkei und den angrenzenden Gebieten” (1 : 3,7 Mio., 1869) vor, die die Gebiete der mittleren und unteren Donau darstellt.
Ein etwas abweichendes Farbschema verwendete der Berliner Kartograph Heinrich KIEPERT (1818–1899), der fast gleichzeitig mit Carl CZOERNIG in Österreich mit der Entwicklung von Karten zur Verbreitung von Sprachen und Völkern begonnen hatte, deren Herausgabe aber über vier Jahrzehnte (1848–1887) fortsetzte. Seine Karten entstanden überwiegend in Zusammenhang mit aktuellen politischen Ereignissen der Zeit.
Das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund (1866) und der nachfolgende Ausgleich mit Ungarn (1867), der den Doppelstaat „Österreichisch–Ungarische Monarchie” entstehen ließ, veranlassten als politische Ereignisse offensichtlich Heinrich KIEPERT, das Blatt „Völker- und Sprachen-Karte von Österreich und den Unter-Donau-Ländern” (1 : 3 Mio., Berlin 1867, Farblithographie) auf den Markt zu bringen. Diese Karte, von Dresden bis Montenegro, bzw. von Stuttgart bis zum Schwarzen Meer reichend, zeigte erstmals alle Donauländer, konnte aber – da eine reine Sprachenkarte – in dem die k.k. Geographische Gesellschaft in Wien interessierenden Raum keine weitere Differenzierung erreichen.
Nachdem ab Mitte des Jahres 1875 in Herzegowina und Bosnien Aufstände gegen die osmanische Herrschaft eingesetzt hatten und 1876 nationale Erhebungen in Bulgarien und der Krieg mit Montenegro und Serbien folgten, rückte Südosteuropa insgesamt verstärkt in das mitteleuropäische Interesse. Trotz äußerst schwieriger Quellenlage außerhalb Österreich–Ungarns gab Heinrich KIEPERT, nun den damals aktuellen Anforderungen folgend, die Karte „Ethnographische Übersicht des europäischen Orients” (1 : 3 Mio., Berlin 1876, Farblithographie) heraus.
Er baute aber diese Karte, die von Wien im Nordwesten bis Kreta im Süden und Konstantinopel (Istanbul) im Osten reicht, wieder auf Sprachfamilien auf. Bei dieser Bearbeitung zeigte sich aber bereits, dass die Feststellung von Verbreitungsgebieten der Völker nach Sprachen für die Gebiete des Orients und daher auch für jene der unteren Donau nicht ausreicht. Im Osmanischen Reich wurde bis dahin die Bevölkerung nach der Religion eingeteilt. Eine Reduktion der Kartenkonzeption auf das Merkmal Sprache hatte nämlich zur Folge, dass auf der ethnographischen Karte des europäischen Orients von Heinrich KIEPERT z. B. das gesamte serbokroatische Sprachgebiet ohne Rücksicht auf die verschiedenen Religionsbekenntnisse (z. B. Orthodoxe, Katholiken, Muslime) in einheitlicher Farbe ausgewiesen war, was bei diesem Kartentyp bis in die 1870er Jahre zwar durchaus üblich aber eben nicht zweckdienlich war. Ungewöhnlich war ferner, dass auch das slowenische Sprachgebiet diesem Farbton zugeordnet worden war. Der kleine Maßstab der Karte (1 : 3 Mio.) hatte ferner zur Folge, dass für die kartographische Darstellung von sprachlichen Mischgebieten eine neue Methode gewählt werden musste. Heinrich KIEPERT wählte schiefe Streifen in den Farbtönen der in diesen Gebieten vertretenen Sprachen (ohne Ausdruck einer Quantifizierung) und damit eine Flächenkennzeichnung, die dem kleinen Maßstab entsprach.
Diese 1876, kurz vor Ausbruch des Krieges der Türkei gegen Russland und gegen die Fürstentümer (1877–1878), vorliegende ethnographische Karte der europäischen Türkei fand die besondere Kritik von Carl SAX, der 1877 als österreichisch–ungarischer Konsul von Kairo nach Adrianopel (Edirne) wechselte. Er hatte sich schon seit den 1860er Jahren durch Studien vor Ort ein Bild der tatsächlichen Verhältnisse gemacht und durch 17 Jahre alle verlässlichen Karten sowie statistischen Verzeichnisse ausgewertet. Es standen ihm auch die anlässlich der Wiener Weltausstellung (1873) von den k.u.k. Konsular- Ämtern eingesandten Berichte und mündliche Mitteilungen von Missionsgeistlichen, Eisenbahnbeamten und verlässlichen Reisenden zur Verfügung. Sein Ziel war der Entwurf einer neuen ethnographischen Karte, die zwei Ziele verfolgte:
•damals bestehende ethnographische Karten der europäischen Türkei zu korrigieren und
•eine ethnographische Karte nach einem neuen System zu entwerfen, das auf den zwei Merkmalen Sprache und Religion aufgebaut war.
Seine vollständig neue, auch den ganzen unteren Donauraum abdeckende „Ethno- graphische Karte der europäischen Türkei...” (ca. 1 : 3,8 Mio., Wien 1878; Abbildung 1) verfolgt ein neues Konzept, da sie von der Darstellung einer Merkmalskombination ausgeht. Wie die Zeichenerklärung in Form einer Matrix ausweist (Abbildung 2), stellt die Karte erstmals Sprachen und Religion gemeinsam dar und kann daher durch die Kombination dieser Merkmale im Raum der unteren Donau, bzw. auf der nördlichen Balkanhalbinsel zu einer feineren Gliederung der Volksgruppen vordringen. Erstmals scheint z. B. im Raum von Teilen Kroatiens sowie in Bosnien und der Herzegowina eine Dreigliederung auf, die den eng verzahnten Lebensraum von katholischen Kroaten, griech. orthodoxen Serben und den „bosnischen Türken” zeigt, die sich alle der serbokroatischen Sprache bedienen. Damit entstand erstmals ein den tatsächlichen Verhältnissen weit gehend entsprechendes kartographisches Bild der Ethnographie der europäischen Türkei zu Anfang des Jahres 1877. Ihr kommt daher auch heute als historisches Dokument Bedeutung zu, da sie das Ver- breitungsbild vor den Veränderungen des Russisch-türkischen Krieges (1877–1878) zeigt. Im Jahr 1878, dem Jahr der Balkankonferenzen konnte sie auf allgemeine Aufmerksamkeit hoffen. Die Karte wurde noch 1878 im Geographischen Institut Ed. Hölzel in Wien in Farben gedruckt und von der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien mit „Erläuterungen” (16 Seiten) herausgegeben.
Nach dem Frieden von san stefano vom 3. März 1878 und dem Berliner Friedensvertrag vom 13. Juli 1878 und den damit festgelegten Grenzbestimmungen blieben nur noch Teile der Balkanhalbinsel unter tÚrkischer Verwaltung. Es entstanden die fÚ rstentÚPer Serbien (ab 1882 Königreich), rumänien (ab 1881 Königreich) und Bulgarien, während die bis dahin niemals befriedeten provinzen Bosnien und Herzegowina der Österreichisch–ungarischen Monarchie zur Verwaltung überlassen wurden (1878 okkupiert, 1908 annektiert).
Zeichenerklärung zur „Ethnographischen Karte der europäischen Türkei...” von Carl SAX (Wien 1878)
Nach der Überführung Bosniens und der Herzegowina in die Verwaltung Österreich– Ungarns (den Ländern der ungarischen Krone zugehörig) 1878 erschien im Geographischen Institut Ed. Hölzel in Wien die „Uebersichtskarte der Vertheilung der Religionsbekenntnisse in ihrem gegenseitigen Dichtigkeitsverhältnisse in jedem Bezirke von Bosnien und der Hercegowina”, die auch quantitative Aussagen macht. Ab den 1880er Jahren gingen Sprachen- und Völkerkarten des Donauraumes verstärkt auch in die österreichischen Schulatlanten ein. Schließlich erschien in Wien von dem Leiter des geographischen Institutes Ed. Hölzel, Vincenz von HAARDT (1843–1914), Mitglied der k.k. Geographischen Gesellschaft seit 1877, die „Uebersichts-Karte der ethnographischen Verhältnisse von Asien und von den angrenzenden Theilen Europa’s” (6 Blätter, 1 : 8 Mio., Wien 1887), die erste und eine der schönsten ethnographischen Wandkarten.
Seit dem späten 19. Jahrhundert hatten ethnographische Karten auch erhebliche politische Bedeutung. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (1918) entstand in Wien eine neue einzigartige Sprachenkarte, die erstmals die Sprachenverhältnisse auf der Basis der Gemeinden wiedergibt. Dieses Kartenwerk mit dem Titel „Sprachenminderheiten im Gebiete der ehemaligen Österreichisch–Ungarischen Monarchie” (92 Blätter, 1 : 200 000, Wien 1919) bearbeitete Richard ENGELMANN nach der Volkszählung von 1910 auf Veranlassung des Ministeriums für Äußeres bei der statistischen Zentralkommission. Es wurde im Militärgeographischen Institut in Farben gedruckt konnte aber den Friedensverhandlungen nicht dienen. Die kleine Auflage blieb in der Folge im Besitz des Ministeriums für Äußeres und nur wenige Stellen verfügten über ein vollständiges Exemplar (darunter die Bibliothek der Geographischen Gesellschaft in Wien).
In den Schulatlanten nahm die Bedeutung dieses Kartentyps in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Völker- und Nationalitätenkarten wenig gepflegt. Nach 1989 erhielten aber Nationalitätenkarten ihre Brisanz zurück. Innerhalb der thematischen Kartographie scheint eine Neubefassung mit diesem Kartentyp wichtig und interessant.
Literaturverzeichnis
CHAVANNE, J.: Zur Erinnerung an die Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der kais. königl. Geographischen Gesellschaft im December 1881. In: Festschrift aus Veranlassung der fünfundzwanzigjährigen Jubelfeier der kais. königl. Geographischen Gesellschaft in Wien im December 1881. Wien, 1881,Verlag von L. C. Zamarski. 114 p.
DÖRFLINGER, J.: Sprachen- und Völkerkarten des mitteleuropäischen Raumes vom 18. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Scharfe, Wolfgang, Heinz Musall und Joachim Neumann (Hrsg.), 4. Kartographiehistorisches Colloquium Karlsruhe 1988. 17-19. März 1988. Vorträge und Berichte. Berlin, 1990, Dietrich Reimer Verlag. 183-195 p.
8 Abb.
DÖRFLINGER, J.: Zu den Sprachen- und Völkerkarten von Heinrich Kiepert. In: Zögner, Lothar (Hrsg.), Antike Welten, Neue Regionen. Heinrich Kiepert 1818-1899. Berlin, Kiepert KG (Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Ausstellungskataloge, N. F. 33). 31-43. p, 5 Farbabb.
SAX, C.: Ethnographische Karte der europäischen Türkei und ihrer Dependenzen zur Zeit des Kriegsausbruches im Jahr 1877. 1878, Herausgegeben von der k.k. Geographischen Gesellschaft.
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